War es in den vergangenen zwei Jahren die Pandemie, so war es jetzt der Krieg in der Ukraine, der uns von der gewohnten Trainings- und Lehrgangsstätte in Erlangen ausschloss. Das brachte im Vorfeld und bei der Durchführung des Lehrgangs ungewohnte kleine Probleme, die Stefan Brendel und seine Helfer jedoch weitgehend im Griff hatten. Stefan hatte die beiden Tage hervorragend vorbereitet und dabei viele ungewohnte Einzelheiten zu berücksichtigen. Der neue Austragungsort war das Bistro der Gaststätte „Blaue Traube“ im Sportheim des TB 1888 Erlangen. Was wir bisher in der Küche des Aikido-Dojos in unserer gewohnten Halle erledigen konnten, übernahm nun zum Teil der Betreiber der Gaststätte. Der Geschäftsführer des Hauptvereins unterstützte uns sehr und stellte Biertisch-Garnituren und zwei Pavillons zur Verfügung und sorgte dafür, dass der Rasenplatz, den sonst andere Abteilungen des Vereins nutzen, für unser „Wander-Dojo“ am Sonntag freigehalten wurde.
Den ersten Tag des Lehrgangs nutzte Feliks Hoff für einen Vortrag über die Achtsamkeit als eine besondere Form der Aufmerksamkeit, von dem er allen Lehrgangsteilnehmern im Vorfeld eine sechsseitige Niederschrift aus dem Jahr 2021 übersandt hatte. Ganz am Anfang jedoch schickte er alle Teilnehmer in eine geführte Meditation im Sitzen auf den gewöhnlichen Stühlen des Bistros. Die volle Konzentration auf den Körper, beginnend mit der Stellung der Füße auf dem Boden, dem Fühlen der Sitzfläche und der Aufrichtung des Rückens, frei oder angelehnt an die Rückenlehne, galt der Atemführung. Einatmen und Ausatmen, unterteilt in Beginn, Mitte und Ende, löste bei den meisten mit dieser Methode nicht vertrauten Anwesenden ganz unterschiedliche Empfindungen aus. Sie waren so eindrücklich, dass sie viele Aussagen am Sonntag, beim Resümee der Teilnehmer, sehr stark bestimmten. Die ausgeführten grundlegenden Aussagen zur Achtsamkeit verband er in der Folge mit den sechs Schritten des Einsichtsdialogs: 1. Innehalten, 2. Entspannen, 3. Öffnen, 4. Sich Einstimmen auf das Geschehen, 5. Tief zuhören und 6. Die Wahrheit sagen.
Nach der Theorie zu den einzelnen Punkten schickte er die TeilnehmerInnen in Zweiergruppen zu einer neuen Übung, die ihnen viel abverlangte. Sie sollten jeweils der anderen Person fünf Minuten lang zuhören, ohne diese zu unterbrechen, danach wechseln und nach den zweiten fünf Minuten sich gemeinsam weitere fünf Minuten über das jeweils Gehörte unterhalten. Die Gruppen wechselten in den Saal, den sonst die Tanzsportabteilung unseres Vereins nutzt. Sie saßen auf dem Parkettboden oder Gymnastikbällen, rangen darum, wer anfangen sollte und waren am Ende so in ihren Austausch vertieft, dass einige das Gongsignal zur Beendigung des jeweiligen Zeitabschnitts oder gar dessen Ende überhörten. Fazit fast aller Schilderungen über das Geschehen war: Schweigend so lange zuhören zu müssen, brachte fast alle an ihre Grenzen. Wir sind es gewohnt, bei Äußerungen eines Gegenübers, stets sofort eigene Argumente in das Gespräch einzubringen. Das Minimum an Äußerung der Zuhörer*innen waren Kopfbewegungen und Gesichtsmimik als Kommentar zum Gehörten. Bei der Abfrage der dabei entstandenen Empfindungen, kam von nahezu allen der Hinweis auf den besonderen Wert des Augenkontakts zwischen den Gesprächspartnern. Dieser sei wesentlich dafür, ob sich der/die Sprecher*in als wertgeschätzt oder nicht empfindet.
Bei der Wiederholung dieser Übung mit wechselnder/m Partner*in gab Feliks vor, sich mit den verschiedenen Rollen, die wir einnehmen (als Kyudo-Lehrende und als im Leben stehende Person) zu befassen. Es war erstaunlich, zu welch unterschiedlichen Ergebnissen die jeweiligen Gruppen gelangten. Bei den Frauen kam nahezu jede auf ihre Mutterrolle zu sprechen und damit verbunden ihre ihnen oft von außen aufgezwungene Sicht, wie diese auszufüllen sei. Ein Tn sprach davon, dass man oft auch gezwungen sei, eine Rolle bewusst zu spielen, um bestimmte Ziele oder bestimmtes Verhalten anderer zu erreichen. Auch von der Gesellschaft aufgezwungene Rollen, meist im Beruf, kamen zur Sprache, denen man sich oft aus moralischen oder verwandtschaftlichen Gründen nicht entziehen könne, z. B. bei der Pflege von Angehörigen.
Im Nachgang des Lehrgangs, bei den Resümees der Teilnehmer*innen, kam oft der Hinweis auf diese Wechselgespräche und die damit ausgelösten besonderen Gefühle. Das wurde durchwegs als positive Erfahrung vermerkt. Am Rande: Wer interessiert und mutig genug ist, Näheres über seine Beziehung/Partnerschaft zu erfahren, sollte dieses Wechselgespräch in seiner „Hardcore-Form“ anwenden. Jede/r spricht und hört je zweimal 15 Minuten, die strikt (Timer!) einzuhalten sind, wechselseitig zu. Die/der Sprechende (es beginnt die/der mit der geringsten gewürfelten Augenzahl) darf während seines Parts auch schweigen, dabei aber keinesfalls unterbrochen werden. Ob nach dieser Stunde weiterer Bedarf zu einem gemeinsamen Austausch oder gar zur Wiederholung dieser Prozedur besteht, ist ungewiss.
Der Zweck dieser beiden unterschiedlichen Übungen bestand in der Absicht Feliks‘, allen teilnehmenden Trainer*innen eine neue Art des Umgangs mit ihren „Schülern“ beim Vorschießen und der Suche nach der zutreffenden Korrektur anzubieten. Nämlich die sechs Schritte des vorgenannten Einsichtsdialogs praktisch anzuwenden.
Innehalten: Beim Treffen an der Honza sich selbst und sich gegenseitig wahrnehmen, Augenkontakt herstellen, sich auf den eigenen Körper konzentrieren und so Achtsamkeit erreichen. Entspannen heißt warten, bis der Schütze seinerseits bereit ist anzufangen. Öffnen: Vorschießen lassen und „dabei sein“, bis Zanshin erreicht ist. Im „Jetzt“ sein und dabei Eindrücke des Schusses bei mir selbst und dem Schützen zulassen und registrieren, gibt es einen Beziehungsfluss zwischen uns oder hat bei mir schon die Beurteilung der verschiedenen Phasen der Hassetsu begonnen? Das Geschehen zulassen, dem Entstehen vertrauen, da wir nicht wissen, was gleich kommt. Sind wir in dieser Instabilität präsent, oder versuchen wir bekannte Erfahrungen einzufrieren und festzuhalten, um Kontrolle ausüben zu können? Bin ich in der Lage, mit einem „Ich weiß nicht Verstand“ dem Verschwinden bisheriger Erfahrungen zuzustimmen? Tief zuhören bedeutet, voll präsent und freundlich dem Angebot des Schützen zuzuhören, geduldig und unbeeindruckt von der Tagesform dem Drang widerstehen, etwas zu sagen. Ein schwer einzuhaltender Punkt, wie die Übungen von vorhin gezeigt haben. Dazu hilft das stetige Üben der ersten drei Punkte des Einsichtsdialogs, indem wir unser Zuhören in einem internen Dialog unterbrechen, um darauf reagieren zu können, indem wir besonders auf die Worte des Übenden achten. Wir erkennen damit den Wert der uns anvertrauten Geschichten an, lernen sie zu verstehen und können uns in sie einfühlen. Alle diese Schritte in der Dialogform führen dazu, dass wir die Wahrheit sprechen. Sie beruht auf der Achtsamkeit des Innehaltens und stabilisiert sich mit dem Entspannen, engagiert sich beziehungsmäßig mit dem Öffnen und gewinnt Flexibilität mit dem Einstimmen auf das Entstehen. Es gehören Achtsamkeit und Unterscheidungsvermögen dazu, um seine subjektive Wahrheit in Worte zu fassen und dadurch nur das in der Situation für die Dialogpartner Nützliche zu erreichen. Wir sagen Dinge, die gesagt werden müssen, freundlich und im Guten, wir kommunizieren Fürsorge, spenden Trost, drücken Freude aus, schenken Einsichten, vermitteln Leichtigkeit. Sprechen bringt unser Denken zu Tage und zeigt, wie wir mit Anderen umgehen. Lassen wir dabei Achtsamkeit walten, werden diese Gewohnheiten sichtbar und eine Veränderung möglich.
Mit der Diskussion über dieses Thema und dessen praktische Anwendung im Alltag der Trainer*innen endete der erste Tag des Lehrgangs. Es schloss sich ein gemeinsames Abendessen im Biergarten der Sportgaststätte unseres Vereins an. Mit der Qualität und der Menge der gewählten Speisen und Getränke war man durchwegs zufrieden. Allerdings kam es wegen der starken Besetzung der Gasträume durch ein Treffen von Burschenschaftern bei der Essensausgabe, trotz Speisen-Vorauswahl und deren rechtzeitiger Übermittlung an den Koch, zu ungewohnt langen Verzögerungen.
Der zweite Tag fand ab 9:30 Uhr bei herrlichem Sommerwetter im Freien statt. Wir hatten auf dem großen Rasenplatz der Sportanlage des TB 1888 unser „Wander-Dojo“ mit sechs Matos (s. Bild) aufgebaut. Am Beginn konnte jede/r Teilnehmer*in vier Pfeile zum Aufwärmen schießen, was angesichts der Temperatur eigentlich unnötig war. Es ging eher um das Gewöhnen an die Anlage. Danach stellte sich Kristina aus Bremen als Schützin zum Vorschießen zur Verfügung. Nach geschossenen zwei Pfeilen war sie diejenige, die mit der neuen Methode korrigiert wurde. Deshalb fragte sie Feliks zuerst nach ihrer eigenen Befindlichkeit und den Problemen bei ihren Schüssen. Nach ihrer ausführlichen Schilderung dazu, besonders zur Stabilität bei den Schüssen insgesamt, meinte Feliks, er habe einen Plan und in der Folge der weiteren Korrektur fragte er: „Willst du meine Einschätzung hören?“ An alle gewandt: „Jetzt mache ich etwas, was sie vermutlich verblüffen wird. Ich werde mit ihr darüber sprechen, wie sie den Bogen trägt. Wie sie Torijumi macht, wie sie Tekiwari gestaltet, wie da die linke Hand schon steht. Denn da ist, wie ich beobachtet habe, schon große Vielfältigkeit und Vielfältigkeit ist nicht Eindeutigkeit. Das heißt, Stabilität ist unter vielen Varianten schwieriger herzustellen, als wenn man eine Form anstrebt. Das Kreuz des Tenouchi beginnt beim Bogentragen.“ Auf immer mehr in Einzelheiten bei der Führung der Yunde eingehend erläuterte er unter steter Nachfrage bei Kristina, wie das angesprochene Problem gelöst werden könnte. Bei der Frage in die Runde der Trainer*innen , ob jemand beim Yugamae etwas Besonderes bemerkt habe, meldete sich Tobias mit seinem Eindruck, ein Grund für die Unruhe sei, dass das Bogenende nicht fest auf dem Knie abgestellt sei. Das sei eine wichtige Beobachtung, meinte Feliks. Bei einer anschließenden Übung ohne Pfeil wies Feliks darauf hin, dass vor dem Anlegen des Tenouchi der Zug mit dem Ellenbogen und der Druck mit der offenen Yunde am Bogengriff genau gegenüber liegen und im Gleichgewicht sein müssten. Zwischen diesen beiden Punkten finde beim Yugamae alles statt. Danach schoss Kristina noch einen Pfeil unter Anwendung der eben erhaltenen Korrekturen. Nach dem Schuss befand Feliks, dass die Stabilität insgesamt besser geworden sei und er befragte Kristina nach ihren Eindrücken. Damit rundete er dieses „Muster-Korrekturgespräch“ ab, das insgesamt etwa eine Viertelstunde dauerte. Darin brachte Feliks auch einen seiner ständigen und schon sehr alten Lieblingssätze unter: „Jedes Hassetsu muss dem Hanare dienen!“. Damit drückt er aus, dass ein guter Schuss nur gelingen kann, wenn, beim Ashibumi beginnend, alle folgenden Schritte bis zum Abschuss technisch korrekt aufeinander aufbauend ausgeführt werden.
Diesem Korrekturgespräch, dem alle Anwesenden zusahen und zuhörten, folgte die Einteilung in fünf Dreiergruppen und eine Vierergruppe. Jeder in diesen Gruppen schoss wechselnd vor den anderen vor und hörte sich nach der, wie gelernt, zuerst abgefragten Eigenbefindlichkeit deren Korrekturvorschläge an. So entstand eine intensive Lehr- und Lerntätigkeit innerhalb der Gruppen über einen längeren Zeitraum. Bei der abschließenden Runde, in der von jeder und jedem der persönliche Eindruck über den Lehrgang abgefragt wurde, war dazu nahezu einhellig die Meinung zu hören, dass diese Art von Kommunikation in das eigene Lehrsystem eingebunden werden sollte. Nur ein Teilnehmer war der Meinung, diese Art Befragung des Übenden während des Trainings mache ihn zu einer Art Inquisitor. Als belebend befanden die Teilnehmer*innen, dass sie diese neue didaktische Methode aus beiden Perspektiven üben konnten. Einmal aus der des Lehrenden und zum zweiten aus der des Schülers. Besonders wurde hervorgehoben, dass in den Gruppen der Austausch zwischen den jungen und schon älteren anwesenden Trainer*innen sehr fruchtbar und von gegenseitigem Respekt geprägt war. Das ganze Seminar sei eine große Bereicherung gewesen und als „Trainerin-Küken so aufgenommen zu werden, sei wow“, meinte Katja in ihrer Zusammenfassung! Beide Seiten hätten viel voneinander lernen können war die einhellige Meinung zur zufälligen, allerdings stark vom Lehrgangs-Thema geprägten Zusammensetzung der Lehrgangsteilnehmer*innen.
In seiner Zusammenfassung der Lehrgangsinhalte bedankte sich Feliks für die Rückmeldungen und meinte, er mache sich Gedanken, ob und wie diese Art von Lehrgang fortgeführt werden könne. Es bedürfe der Übung und des Ausprobierens auch in der Alltagssituation. Ein Seminar und eine Einführung sei anders, als sich etwas in seiner Haltung zu eigen zu machen und sich daran zu erinnern, dass man dies als weitere Möglichkeit zur Verfügung habe. Wenn das einem im richtigen Moment einfällt, wenn es etwas schwierig wird, nicht anzuordnen, sondern sich zu sagen, ich gehe in den Dialog, trete etwas zurück, zum Wohle für mich und auch für den anderen, erleichtert das sehr. Das sei in Ordnung und man müsse diese Methode nicht sofort und immer bei jedem anwenden. „Ich sage noch einmal ausdrücklich, es ist eine zusätzliche Möglichkeit“. Wenn sich positive Seiteneffekte ergeben, in Form der Beziehung oder dass Gruppen damit positiv beeinflusst werden, dann kann man sich das merken und zu gegebener Zeit wieder herausholen. Es soll mehr Anregung sein, als zu sagen, es geht nicht anders. Es gibt viele Möglichkeiten. Im Buddhismus gibt es einen Terminus und der heißt „geschickte Mittel“. Diese sind gelegentlich außerhalb des Standards, aber solange sie helfen, sind sie gut. Man kann immer sagen, wenn ich Leute habe, die kompliziert in ihrer Körperlichkeit sind und ich habe jemanden im Verein, der Feldenkrais kann, dann kann er mit Feldenkrais oder Yoga arbeiten, um durch die Zäune oder Mauern zu kommen, die sich aufgerichtet haben. Wenn das jemanden hilft, muss er nicht Feldenkrais-Lehrer werden, sondern kann weiterhin Kyudo machen und nur ein paar Sachen im äußerlichen Üben ändern oder gelegentlich besser organisieren. Seid nicht ängstlich, auch einmal etwas anders zu machen.
Damit endeten seine Ausführungen und er rief wie üblich zur abschließenden Aufstellung zum Abgrüßen auf und wünschte allen eine gute Heimreise. Danach gab es noch das traditionelle Gruppenfoto und der Lehrgang war gegen 14:15 Uhr zu Ende und die Teilnehmer*innen machten sich nach einer kleinen Stärkung auf die für die meisten viele Stunden lange Heimreise, ob mit Bahn oder Auto. Aus Vereinen in Lübeck, Hamburg, Bremen, Aachen, Schwerte, Frankfurt, Heidelberg, Karlsruhe, Neuburg, München, Weilheim und Erlangen waren die Teilnehmer*innen angereist.
Hans Philipp
Bilder: Nora Schöner, Hans Philipp